Von A wie Adorno bis Z wie Zappa
„Alle, die Abisag Tüllmann kannten, heben ihr enormes Arbeitspensum hervor, das sie auf ein breites Themenspektrum verteilte. […] Das Spektrum ihres Bildkosmos umfasst so unterschiedliche Stichworte wie Auschwitz-Prozess, Autos, Banken, Black Panther, Biennale, Beuys im Kunstverein, Freie Schule, Fußball, Frauenprojekte, Gastarbeiter, Hippies, Jazz, Kirmes, Mercedes-Benz, Obdachlose, Stadt, Studentenbewegung, Schrift und Kurioses, Tiere, Zigeuner. Von A wie Adorno bis Z wie Zappa hat Tüllmann Menschen im In- und Ausland porträtiert: Politiker, Obdachlose, Passanten, Künstler, Freunde, Eltern, Kinder und Alte.“
(Martha Caspers, 2010, zit. aus „Sehen – Hinsehen. Einblick ins Werk Abisag Tüllmanns“, in: Abisag Tüllmann (1935-1996). Bildreportagen und Theaterfotografie, S. 9)
Ein Modellprojekt
Das von der Abisag Tüllmann-Stiftung finanzierte Erschließungsprojekt wurde in der bpk-Bildagentur von Dezember 2016 bis Mai 2019 durchgeführt. Ziel des Vorhabens war es, den Nachlass der Fotografin aufzuarbeiten. Dabei wurde zum einen das Material physisch geordnet und für eine langfristige Erhaltung konditioniert, zum anderen das Gesamtwerk für Recherchen zugänglich gemacht.
Eine solche Tiefenerschließung ist ein positiver Ausnahmefall, da in vergleichbaren Fällen oft das Tagesgeschäft (etwa eine Ausstellung) der bewahrenden Institution (etwa einem Museum) nur eine oberflächliche Aufbereitung von Teilbereichen ermöglicht. Der „reportage- und portraitspezifische Teil“ des Fotoarchivs von Abisag Tüllmann, welchen die bpk Bildagentur 1997 mit allen Rechten erworben hat, sollte nicht nur konservatorisch für eine Langzeiterhaltung gesichert und inhaltlich erschlossen, sondern auch zeitgemäß und in seinem historischen Kontext vermittelt werden. Daher wurden neben den Originalabzügen der Fotografin alle Materialien des Nachlasses (Negative, Dias, Briefe, Dokumente, Bücher, Kunstobjekte) berücksichtigt und im Rahmen einer eigens erarbeiteten Dokumentation online präsentiert.
Angestrebt wurde die weitere Erforschbarkeit des Nachlasses sowohl unter Aspekten der Bildagentur als auch den Maßgaben eines archivalischen und musealen Interesses an Objekten. Daher galt eine grundsätzliche, im Projekt angelegte Sensibilität für den Unterschied zwischen dem Originalabzug und der posthum erschlossenen Bildquelle (Digitalisat vom Negativ bzw. Dia) auch für die Bereitstellung von Informationen auf der geplanten Webseite.
Neben biografischen Informationen wurden Themendossiers entwickelt, die den Zugang zum Werk Abisag Tüllmanns eröffnen und zu einer weiteren Auseinandersetzung mit ihrer fotografischen Arbeit einladen.
Fotografie – Objekt und Quelle
Eine Fotografie ist sowohl ein physischer Gegenstand als auch ein Informationsmedium. Sie hat ihre eigene materielle Geschichte, die ihre Entstehung, ihre stoffliche Beschaffenheit, Gebrauchsspuren und Alterserscheinungen beinhaltet. Gleichzeitig hat sie einen historischen Zeitpunkt gespeichert, eine Sichtweise festgeschrieben, ist Zeugin eines Moments gewesen.
Daher kommen im Umgang mit dem Material zwei Grundprinzipien zum Tragen:
1. Fotografie als Objekt: Autorschaft, einzelne Originalfotografien (sogenannte Vintage Prints, aber auch Kontaktabzüge, Negative und Dias von Hand der Fotografin), gedruckte Fotografie, Gestaltungswille/ Handschrift, Fotogeschichte, Ausstellung. (Objekt- bzw. Inventarnummer)
2. Fotografie als Quelle: visueller Informationsgehalt, digitalisiertes Negativ / Dia oder sogar Neuabzug auf dieser Grundlage, Rohmaterial aus dem Arbeitsprozess der Fotografin, Zeitgeschichte, Bildagentur. (Bildnummer)
Ausgangssituation
Mit dem Nachlass der Fotografin wurde in den zwanzig Jahren seit ihrem Tod im Jahr 1996 bereits wiederholt gearbeitet.
Angesichts des Materialvolumens sah das Konzept eine Testphase vor, in der die Erschließungstiefe evaluiert werden konnte. Nach zwei Monaten wurde der Arbeitsprozess entsprechend angepasst, so dass die im März 2017 festgelegten Zielgrößen erreicht werden konnten.
Konservierung bis 2016
Konserviert wurden sowohl die Negativfilme und Dias in archivsicherem Material. Die Originalabzüge verblieben in der ursprünglichen Verpackung (Agfa-Kisten, ohne Zwischenlagen). Eine Ausnahme bildeten die rund 400 Abzüge, die in den Ausstellungen 2010/2011 (Historisches Museum Frankfurt / Museum für Fotografie Berlin) und 2016 (Goethe-Institut Paris u. Lyon) gezeigt und später in ihren Passepartouts gelagert wurden.
Erschließung bis 2016
Eine erste inhaltliche Erschließung über Excel-Listen (Filmnummer, Datierung, Stichwort zum Inhalt) für den Zeitraum 1955-1996 wurde in Auszügen, insbesondere von Abisag Tüllmanns ehemaliger Mitarbeiterin Christina von Haugwitz (1999-2002) vorgenommen. Für die Farbdias gab es ebenfalls eine erste tabellarische Übersicht. Beide wurden zu weiten Teilen überarbeitet und vervollständigt.
Digitalisierung bis 2016
Digitalisiert waren bereits rund 2.200 Aufnahmen für die Webseite der bpk Bildagentur, wobei es sich nur bei 352 digitalen Bildern (und zwar den Exponaten der Ausstellung 2010 im Historischen Museum Frankfurt) um einen „Scan vom Vintageprint“ handelt. Vom bpk-Dienstleister wurden ansonsten Neuabzüge der Negative angefertigt und digitalisiert. Im Vergleich wurde an diesen „Scans vom Neuprint“ der qualitative Unterschied zwischen Rohbild und vom Gestaltungswillen der Bildautorin charakterisierten Originalabzug exemplarisch erfahrbar.
Aufgaben des Projekts
Analoge Fotografie ist ein historisches Medium, das unter immer neuen Fragestellungen untersucht werden kann. Diese gehen über das abgebildete Motiv weit hinaus und insbesondere der Unterschied der verschiedenen Bildformen (Originalabzug / „Vintage Print“, Negativ, Dia, Neuabzug, gedruckte Fotografie) hält vielfältige Erkenntnisse bereit. Aber auch der tiefgreifende Praxiswandel in der Fotografie steht im Fokus. Auf der Abisag Tüllmann-Forschungswebsite wurde daher dem materiellen Aspekt des Nachlasses deutlicher Rechnung getragen. Wenngleich bei den ausgewählten Motiven vorrangig Originalabzüge präsentiert werden, sind punktuell auch Ansichten der Bild-Rückseiten, Varianten, gedruckte Versionen zu sehen und digitalisierte Kontaktbögen sowie Dias einbezogen. Für eine sinnvolle Nutzung ist die eindeutige Identifizierung der Bildquelle bzw. Nachweis der Scan-Vorlage dann jedoch unerlässlich.
Konservierung
Nach erfolgter Digitalisierung und Erfassung wurden die Originalabzüge archivsicher und säurefrei mit Zwischenlagen in neue Kisten umgelagert. Exemplarisch wurden einige von der Fotografin beschriftete Original-Agfa-Kisten aufbewahrt. Sämtliche Archivalien und Belege wurden so aufbereitet, dass sie langfristig gelagert werden können (d.h. sie wurden insbesondere aus Kunststoffordnern und -hüllen entfernt und von rostgefährdeten Klammern befreit).
Inhaltliche Erschließung
Zu den ersten Aufgaben gehörte das Überarbeiten und Vervollständigen eines Gesamtverzeichnisses aller rund 8.000 Negativfilme, als Einarbeitung in die thematische, zeithistorische Spannbreite des Werks von Abisag Tüllmann. Im nächsten Schritt wurden sämtliche Motive der Originalabzüge in Arbeitsbildqualität abfotografiert und eine Auswahl der zu digitalisierenden Abzüge getroffen. (Da zu jedem Motiv in der Regel mehrere unterschiedliche Abzüge vorliegen, wurde hierbei priorisiert.) Die Auswahl von rund 2.200 Abzügen wurde dann in einer Datenbank einzeln erfasst. So entstand ein am Rechner zugänglicher Überblick über das Werk Abisag Tüllmanns, der die Grundlage für den gewünschten Recherche Zugriff auf der Webseite bildet – sowohl zu den Motiven (Fotografie als Quelle) als auch zu den Originalabzügen (Fotografie als Objekt).
Digitalisierung
Sämtliche 8.000 Kontaktbögen wurden in einer Auflösung von 300 dpi auf A4 digitalisiert.
Rund 2.200 Originalabzüge wurden mit 300 dpi auf A3, rund 200 Dias mit 300 dpi auf A4 digitalisiert.
Die Erschließung und Zugänglichmachung des Nachlasses von Abisag Tüllmann bedeutete für die bpk Bildagentur, großzügig unterstützt von der Abisag-Tüllmann-Stiftung, ein Pilotprojekt. Der Zuschnitt des personell und sachlich gut ausgestatteten Vorhabens ermöglicht dem fotografischen Erbe Tüllmanns, fortzubestehen. Zahlreiche Archive und Museen stehen heute vor der Frage, wie eine nachhaltige Sicherung und Sichtbarkeit von FotografInnennachlässen bzw. Fotografiearchiven zu bewerkstelligen ist. Die bpk-Bildagentur ist Teil eines Netzwerks und hat mit diesem Projekt Gelegenheit, nicht nur der Abisag Tüllmann Stiftung bei der Umsetzung ihres Stiftungsziels zu helfen, sondern auch ihr Profil als nachlassbewahrende Institution zu schärfen.
Das Team bestand aus:
Christina Stehr
Germanistin / Kulturwissenschaftlerin. Stellvertretende Leiterin der bpk-Bildagentur, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, administrative Projektleitung.
Dr. Kristina Lowis
Freie Kunst- und Fotohistorikerin. Co-Kuratorin der Tüllmann-Ausstellung 2010. Konzept, inhaltliche Projektleitung, Bildauswahl und Texte.
Noemi von Alemann
Kunsthistorikerin. Dokumentation, Vorauswahl und Datenbankerfassung. Aufarbeitung des schriftlichen Nachlasses, Dossier Schule & Pädagogik, Lektorat.
Noel Tovia Matoff
Fotografin. Ehemalige Assistentin von Abisag Tüllmann. Dokumentation, Vorauswahl und physische Aufbereitung des Nachlasses.
Stefan Geiser
Informations- und Datenmanagement in der bpk-Bildagentur. Konzeptionelle und technische Betreuung der Webseite.