Fotografie als Objekt
Besonderheiten von analogen Nachlässen
Anders als bei rein digitalen Bilddatenbanken geht es bei analogen fotografischen Nachlässen – wie dem von Abisag Tüllmann – um einen physischen Bestand: Papierabzüge, Negative und Kontaktbögen, Dias, gedruckte Fotografien, die materielle Besonderheiten mit sich bringen, Gebrauchsspuren tragen können und deren Aufbewahrung spezielle Lagerbedingungen und Raum erfordert. Für dieses Projekt wurde grundsätzlich unterschieden zwischen dem Originalabzug und der posthum erschlossenen Bildquelle (das nicht als Abzug vorliegende digitale Bild vom Negativ bzw. vom Dia). Nebenstehend sind einige Rückseiten zu sehen, die Geschichten über die Verwendung der Abzüge zu erzählen haben.
Bildjournalismus in analogen Zeiten
Der Weg von der Aufnahme bis zur Veröffentlichung einer Fotografie war vor unserer digitalen Ära deutlich länger. Ausgerüstet mit mehreren Kameras und einem Vorrat an Farb- und Schwarz-Weiß-Filmen waren die Fotografinnen unterwegs. Mit den Bildern in der Kamera ging es dann ins Labor, wo die Filme mithilfe von Chemikalien entwickelt und unter kontrollierten Lichtverhältnissen belichtet, vergrößert und bisweilen aufwendig manuell bearbeitet wurden. Die sorgsam getrockneten Abzüge wurden dann, wie überhaupt der Schriftverkehr, per Post an die Redaktionen gesandt. Dort waren ebenfalls mehrere manuelle Arbeitsschritte bis zum Druck vonnöten, die man den Abzügen, die später an Tüllmann zurückgeschickt wurden, auch ansieht: sie tragen nicht nur den Stempel der Fotografin und eventuell einen mit Bleistift notierten Bildtitel, sondern auch Notizen und Aufkleber aus den Redaktionen auf der Rückseite. Solche fotografischen Objekte tragen also nicht nur auf der Vorderseite, sondern auch auf der Rückseite Informationen. Sie sind greifbare, sinnliche Gegenstände, deren Beschaffenheit jedes Bild zu einem Unikat – in diesem Zustand einmaligen Stück – macht.
Die nebenstehenden Bilder zeigen eine Aufnahme von Herbert Marcuse auf einem Kontaktbogen, einem Originalabzug, einem Neuabzug und im Druck.
Abzug ist nicht gleich Abzug
Die nebenstehenden Bildvergleiche zeigen jeweils rechts einen in der bpk-Agentur gefertigten Neuabzug nach dem Negativ aus dem Nachlass und links einen Originalabzug von Abisag Tüllmann. Duch das Bewegen des mittigen Reglers werden die Unterschiede in der Bildgestaltung deutlich: Ausschnitt, Kontraste, Interpretation weichen in beiden Versionen erkennbar voneinander ab und veranschaulichen die Handschrift der Fotografin.
Abisag Tüllmann bevorzugte über lange Jahre harte Kontraste und körnige Bilder (d.h. auf denen die Silberkörner in der Gelatineschicht auf dem Papier sichtbar wurden), war aber unzufrieden, wenn der Druck zu schwarz und wenig nuanciert ausfiel und noch einmal an Bildinformationen verlor.
Kinder mit Nonne auf der Untermainbrücke, Frankfurt am Main, 1959
links: der Originalabzug von Abisag Tüllmann,
rechts: ein neuer Abzug nach dem Negativ aus dem Bildarchiv
Ein Schäfer vor einer Chemieanlage, Algerien, 1970
links: der Originalabzug von Abisag Tüllmann,
rechts: ein neuer Abzug nach dem Negativ aus dem Bildarchiv
Walter Gropius – im Profil, 1959
links: der Originalabzug von Abisag Tüllmann,
rechts: ein neuer Abzug nach dem Negativ aus dem Bildarchiv
Porträt Herbert Marcuse, Frankfurt am Main, 1972
links: der Originalabzug von Abisag Tüllmann,
rechts: ein neuer Abzug nach dem Negativ aus dem Bildarchiv
Abisag Tüllmann selbst über ihre Abzüge:
„Ich hätte Ihnen gewiß ein paar Fotos geschickt und ein paar Angaben getippt, wenn ich nicht so ratlos wäre, was Sie eigentlich haben wollen. Was, um Himmels willen, verstehen Sie unter „Arbeitsabzug – keine Originale“?
Es versteht sich doch wohl von selbst, dass ich Ihnen weder Negative noch schlechte Vergrößerungen, also Abfall schicken werde. Bei meiner pedantischen Abwedel- und Nachbelichtungsarbeitsweise ist zwar, wenn Sie so wollen, jede gute Vergrößerung ein Unikat, aber was Sie unter Original verstehen, weiß ich nicht. Wollen Sie gedruckte Fotos, also Belegexemplare von Zeitungen, oder wollen Sie „vera fotografia“, wie’s so hübsch auf den alten italienischen Ansichtspostkarten steht?“
(Brief Abisag Tüllmann an Petra Benteler, 18.12.1978, aus dem Nachlass)
Abisag Tüllmann zur Berufspraxis als freie Fotografin
„Womit wir bei der Arbeit selbst angelangt wären. Deine Rechnung […] hat mich sehr amüsiert. Ich möchte aber doch ein paar Bemerkungen dazu machen: in den 40 Tagen sind erst mal 8 Tage fotografieren enthalten (die einzige Zeit, in der ich nicht auf einen 12-Stundentag kam) und die Tage, die fürs Entwickeln der Filme, Eintaschen und Kontakte machen drauf gingen. Wie du weißt, dauert es auch ganz hübsch lang, Kontakte mit der Lupe anzugucken und auszusuchen. Und das musste ich bei jeder Sequenz immer wieder machen, um wirklich die besten Fotos unter den 700, die Du angestrichen hattest, rauszusuchen. Die Fotos müssen zum Beispiel auch getrocknet werden. Wenn man sie hochglänzend trocknet, kleben sie an den Chromfolien, wenn man sie matt trocknet, kleben sie am Leintuch, das an den Ecken dicke Nähte hat. damit sie nun hübsch glatt fürs Abfilmen wurden und nicht dellen und wellen von den Nährten am Rand bekamen, haben ich statt wie sonst 4 jeweils nur 2 Fotos auf eine Platte gelegt – und auf diese Weise täglich 3 bis 4 Stunden an der Trockenpresse gestanden und gekniet. Das sollte ich, Deiner Rechnung nach, wohl unter Gymnastik abbuchen? Jede Woche einen Tag lang mit der Brille auf der Nase am Tisch sitzen und die Fotos mit spitzem Pinsel, Farbe und Spucke ausflecken, sogar nachts bei Lampenlicht, was bekanntlich den Augen schadet – soll ich das unter Vergnügen, Hobbymalerei oder Arbeit abbuchen?
Um ernsthaft zu werden, was mir angesichts Deiner komischen Rechnung schwer fällt: Du weißt doch selbser, wieviel Zeit Kleinkram-, Neben- und Organisationsarbeiten fressen, die ebenso Arbeit sind wie die eigentlich produktiven und an jeder produktiven Arbeit dran hängen.“
(Brief Abisag Tüllmann an Jutta Brückner, 30.08.1975, aus dem Nachlass)